Die Zukunft der Hilfsmittelversorgung: Mangel oder neue Qualität?

 Andreas Brandhorst (Leiter des Referates für vertragsärztliche Versorgung, Heil- und Hilfsmittelversorgung und wirtschaftliche Fragen des Rettungsdienstes im Bundesministerium für Gesundheit) bewertete die Ergebnisse des Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetzes (HHVG) aus dem Jahre 2017 „…als einen Perspektivwechsel des Gesetzgebers hin zu einer stärkeren Qualitätsorientierung für die Heil- und Hilfsmittelversorgung“. Jedoch verwies er auch auf Umsetzungsdefizite, die im Sonderbericht des Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS) von 2022 zur Qualität der Hilfsmittelversorgung benannt wurden: „Keine Krankenkasse biete die vom Gesetz geforderte Information der Versicherten zu den wesentlichen Inhalten der geschlossenen Verträge an. Dem Auftrag, die Einhaltung der Vertragsinhalte durch ihre Vertragspartner u.a. mit Auffälligkeits- und Stichprobenprüfungen zu kontrollieren, würden die Krankenkassen häufig nicht ausreichend, teilweise überhaupt nicht nachkommen. Das BAS stellte auch fest, dass vor allem viele kleinere Krankenkassen mit der Vielzahl der zu schließenden Verträge offensichtlich überfordert seien. Vor diesem Hintergrund regte das BAS an, Leistungserbringer wieder – wie schon bis 2007 – Hilfsmittelverträge durch die Krankenkassen auf Landesebene gemeinsam und einheitlich abschließen zu lassen.“

Derzeit arbeitet das BMG an eigenen Regelungsvorschlägen, die im Laufe der nächsten Monate in ein Gesetzgebungsverfahren überführt werden sollen. Absehbare Schwerpunkte dabei sind: „deutlichere Vorgaben zur Durchführung von Qualitätsprüfungen durch die Krankenkassen in enger Zusammenarbeit mit dem Medizinischen Dienst, die Vereinfachung des Vertragswesens nicht um Vertragsverhandlungen abzuschaffen, sondern um die Verträge stärker auf die wirklich wichtigen Punkte die Qualität und den Preis zu fokussieren. Die administrativen Fragen könnten stärker standardisiert werden.“ Dabei stellen sich auch Fragen zur Finanzierung: „Dieses Thema wird im Gesetzgebungsverfahren mit Sicherheit auch die mögliche Wiedereinführung von Ausschreibungen beinhalten, wie u.a. vom GKV-Spitzenverband gefordert. Brandhorst betonte, dass diese Forderung auf der Fachebene im BMG kritisch gesehen wird. Die Annahme, dass mit Ausschreibungen erhebliche Ausgabensenkungen erreicht werden könnten, ist zweifelhaft. Deutliche Ausgabenzuwächse sind in den vergangenen Jahren in solchen Produktgruppen zu verzeichnen, in denen es zu medizintechnischen Innovationen gekommen ist. Dagegen sind die Ausgaben für die Produktgruppe Inkontinenzhilfen, in der bis zum TSVG Versorgungsverträge fast durchgängig über Ausschreibungen vergeben wurden, inflationsbereinigt sogar gesunken.“ Er schloss seine Ausführungen mit der Prognose: „Ich erwarte keine grundlegende Kurskorrektur, aber wichtige Anpassungen.

Maria Wachsmann (GKV-Spitzenverband, Abteilung Gesundheit/Referat Hilfsmittel) referierte zur Vorgehensweise des GKV-Spitzenverbandes bei der Erstellung und Fortschreibung des Hilfs- und Pflegehilfsmittelverzeichnisses (HMV). Derzeit sind 42.000 geprüfte Produkte im HMV gelistet. Seit 2019 wurden rund 16.000 neue Aufnahmeanträge bearbeitet. In Deutschland finden jährlich ca. 30 Mio. Hilfsmittelversorgungen mit im HMV gelisteten Produkten statt. Auch die Digitalisierung macht vor der Hilfsmittelversorgung nicht halt. Dazu entstehen im HMV „insbesondere neue Anforderungen zur Festlegung der Zweckbestimmung / Indikationen für die Hilfsmittel, zur Versorgungsqualität, sowie zum Datenschutz und zur Datensicherheit. Die Bedeutung für die Leistungserbringung wird in der geforderten Zusammenarbeit der beteiligten Akteure deutlich, und die Erläuterungen zu technischen Möglichkeiten und die Forderung zur Verfügbarkeit von Notdiensten sind vorhanden“. Für die Digitalisierung im Rahmen der Fortschreibung des HMV gilt: „die technische Realisierbarkeit durch die Beteiligung der mitwirkungs- und stellungnahmeberechtigten Organisationen sicherzustellen“. Als Ergebnis des Fortschreibungsprozesses wird erwartet: „die Qualitätsverbesserung der Versorgung, Stärkung der Versichertenrechte, Sicherstellung der Wirtschaftlichkeit und die Berücksichtigung von Produktinnovationen“. Beteiligt an der Fortschreibung sind in der Regel: „Patientenvertretungen, Fachgesellschaften / Sachverständige sowie der Medizinische Dienst, die Leistungserbringerorganisationen, die Herstellerorganisationen und die Verbände der Krankenkassen.

Neue Wege in der Gesundheitsversorgung in Form regionaler Versorgungskonzepte stellte Jonah Grütters (OptiMedis AG) sehr anschaulich vor. In seinem Vortrag gab er – ausgehend von der demografischen Entwicklung – Antworten auf die Frage: „Wie sichern wir die Versorgung in den nächsten 10 bis 15 Jahren, wenn wir immer mehr Menschen über 70 und gleichzeitig weniger junge Berufsanfänger: innen haben und die Ausgaben der Krankenkassen die Einnahmen um ein Vielfaches übersteigen?“. Ein möglicher Lösungsweg ist die „Patient: innen orientierte Versorgung, mit einer engen Kooperation der unterschiedlichen ärztlichen und nichtärztlichen Leistungserbringenden sowie die evidenzbasierte Medizin zur Steuerung und Koordination der Versorgungsprogramme, die durch eine regionale Gesundheitsmanagementorganisation als Koordinator, Motivator und Integrator – der Gesundheitskiosk – mittels Fallberatung, Fallsteuerung und Systemmanagement“ tätig ist. Es ist davon auszugehen, so Grütters weiter, dass mit dem Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsversorgung der Kommunen (GVSG) Anfang 2024 Gesundheitskioske ihren Betrieb aufnehmen können.

Ein Anwendungsbeispiel digitaler Verfahren wurde von Dorothee Bitters (GWQ Service Plus AG) und Ute Buchen(SpectrumK) mit dem Online-Beitrittsmanager (OBM) zum Hilfsmittelvertrag vorgestellt. Damit wurde im BKK-System eine „zentrale Plattform für das Beitrittsmanagement von Leistungserbringern zu GWQ- & SpectrumK-Verträgen“ geschaffen. Bisher verzeichnet die Plattform bereits über 1.500 registrierte Nutzer. Beide für gesetzliche Krankenversicherungen tätigen Dienstleister verzeichnen als Mehrwert:

„Durchblick im Vertragsdschungel und Unterstützung der Hilfsmittel-Leistungserbringer, um einen Überblick über die für sie relevanten Hilfsmittelversorgungsverträge zu behalten. Im OBM enthalten sind beim Beitritt zu möglichen Hilfsmittelverträgen eine automatisierte Präqualifizierungs-Prüfung und ein Angebot für Leistungserbringer, über ein digitales Beitrittsformularschnell und einfach online den Verträgen beizutreten. Hierbei werden die die aufwändigen und fehleranfälligen manuellen Datenerfassungen, die teils handschriftlich ausgefüllten, unvollständigen und unleserlichen Beitrittserklärungen ersetzt. Die schnelle und unkomplizierte Anpassung von Kontaktinformationen erhöht zudem die Qualität und Aktualität der Daten.“

Thomas Dinse (OptaData Group) informierte über den Stand des Pilotprojektes “e Verordnung Hilfsmittel“. Ziel des Projektes, das der BIV-OT gemeinsam mit verschiedenen Gesundheitshandwerkern und Software- und Abrechnungsfirmen durchführt, ist die „Gestaltung und Erprobung der elektronischen Verordnung im Hilfsmittelbereich“. Dazu haben bereits „erste Leistungserbringer im August mit der Erprobung der Prozesse begonnen. Die Teilnahme am Feldtest ist Leistungserbringern möglich, wenn ihre Branchensoftware dafür geeignet ist. Aktuell wird die Einführung des e Liefernachweises unter Nutzung e ID-Funktion des Ausweises / Passes erarbeitet“.

Kirsten Abel (Sprecherin des BIV-OT und Generalsekretärin von „Wir versorgen Deutschland – WvD“) informierte über Ergebnisse einer aktuellen WvD-Umfrage unter 4.500 Betrieben. Darin befürchten „88,8% der Befragten angesichts der wirtschaftlichen Lage Einschränkungen (z.B. Wartezeiten) in der Hilfsmittelversorgung, 87,6% wiesen unbesetzte Stellen bei Meistern, Aufsicht und Führung in der Medizin-, Orthopädie- und Reha-Technik aus. Als Bürokratietreiber benennen die Befragten: 91,83% die Vielfalt der GKV-Verträge, 85,92% die unterschiedlichen Dokumentationspflichten. Auf die Frage nach den Folgen der Bürokratielasten nannten 93,24% die ansteigenden Verwaltungskosten, die aktuell nicht refinanziert werden, 85,92% gaben an, weniger Zeit für die Versorgung zu haben und 55,77% wiesen auf die Verschärfung durch den aktuellen Fachkräftemangel hin“.

Ihr Fazit aus den Auswertung: die Lage verschärft sich durch „den dramatischen Fachkräftemangel auf Seiten der Ärzte und den nichtärztlichen Leistungserbringenden, drohende Versorgungsengpässe bei den Hilfsmitteln, die demografischen Veränderungen und die unverhältnismäßige Bürokratie bei den individuellen Auswahlentscheidungen. Die Bürokratie verschärft zusätzlich den Fachkräftemangel und führt zu Versorgungsengpässen und zu versorgungsunabhängigen, exponentiell steigenden Verwaltungskosten“. Es gibt aber auch Lichtblicke: „Der Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach will die konservative Therapie und die Ambulantisierung stärken, die Ärzteschaft hat das Problem erkannt und die Kostenträger gehen in Nischenbereichen bereits zu Leitverträgen über“.

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